Manchmal ist die Bewertung des Verschuldens des jeweiligen Ehepartners an der Zerrüttung der Ehe eine juristische Gratwanderung. In manchen Fällen kann man über die Schuldzuweisungen der Gerichte durchaus diskutieren. So auch im folgenden Fall:
Im Jahr 2016, die Ehepartner waren damals gerade drei Jahr verheiratet, verursachte der Mann auf dem Heimweg von einem Feuerwehrfest schwer alkoholisiert einen Verkehrsunfall. Er erlitt schwerste Verletzungen an Becken und Wirbelsäule, die zunächst seine Mobilität völlig einschränkten, zu einer langfristigen Impotenz und dauerhaften Stuhl- und Harninkontinenz führten. Der Mann war sechs Wochen im Krankenhaus, danach monatelang auf Reha.
Der Ehemann war damals 34 Jahre alt, die Frau 24, ihre beiden Kinder 5 und 2 Jahre.
Die Frau besuchte den Mann täglich im Krankenhaus und regelmäßig auf der Reha. Danach pflegte sie ihn zu Hause. Daneben führte sie allein den Haushalt, betreute die beiden Kinder und pflegte auch ihre Mutter und ihren Bruder, die beide schwerkrank waren. Mutter und Bruder starben kurz hintereinander, die Mutter 2017 und der Bruder im August 2018. Im Oktober 2018 starb auch noch der Firmpate der Frau, im Dezember 2018 beging ihr anderer Firmpate Selbstmord.
Die Frau war mit der Haushaltsführung, Kindererziehung und Pflege ihrer Angehörigen so überlastet, dass sie ihre Berufstätigkeit aufgeben musste. Sie litt aufgrund der körperlichen u psychischen Belastungen vermehrt an Schlafstörungen. Der Mann unterstützt sie nicht. Nach dem Tod der Mutter ging die Frau öfters bis spät in die Nacht aus. Bei einer Weihnachtsfeier im Jahr 2017 tauschte sie alkoholisiert Zärtlichkeiten mit einem anderen Mann. Im November 2018 wollte die Frau aus der Ehewohnung ausziehen. Der Mann drohte mit Selbstmord, die Frau blieb.
Ab Jänner 2019 war dem Mann wieder Geschlechtsverkehr möglich, doch musste er davor seine Windeln ablegen und duschen, was die Frau als lusttötend empfand.
Im Mai 2019 ging die Frau eine außereheliche Beziehung mit einem anderen Mann ein und zog im Juni 2019 mit den beiden Kindern aus der ehelichen Wohnung aus, weil die Ehe für sie unrettbar verloren war.
Die Frau klagte auf Scheidung aus Alleinverschulden des Ehemannes. Der Mann brachte Widerklage ein und begehrte die Scheidung aus Alleinverschulden der Frau.
Das Erstgericht ging vom überwiegenden Verschulden der Frau aus und lastete ihr die ehewidrigen Beziehungen und das Verlassen der Ehewohnung als schwere Eheverfehlungen an. Dem Ehemann warf das Gericht zwar die unterlassene Unterstützung der Frau vor.
Auch das Berufungsgericht ging vom überwiegenden Verschulden der Frau aus. Beide Instanzen vertraten außerdem die Ansicht, dass aus dem grob fahrlässig herbeigeführten Verkehrsunfall des Mannes kein Verschulden am Scheitern der Ehe abzuleiten sei.
Der Oberste Gerichtshof (OGH 6Ob55/21p) änderte den Verschuldensausspruch und ging vom gleichteiligen Verschulden aus. Den Verkehrsunfall beurteilte der OGH anders als die Vorinstanzen, da der Mann diesen durch sein schuldhaftes Verhalten herbeiführte. Als Zeitpunkt der endgültigen Zerrüttung der Ehe sah der OGH den Auszug der Frau im Juni 2019.
Meiner Meinung nach ließen sich durchaus auch Argumente für ein überwiegendes Verschulden des Mannes finden. Er hat den Unfall verschuldet, die Lebenssituation der gesamten Familie völlig auf den Kopf gestellt, seine damals noch sehr junge Frau enorm belastet, sie nicht unterstützt. Die Frau hatte noch weitere schwere Schicksalsschläge zu verkraften. Ist die unheilbare Zerrüttung nicht schon 2017 eingetreten? Die Frau blieb ja nur, weil der Mann mit Selbstmord drohte. Auch in der Fachliteratur fand ich eine (weibliche) Stimme, die für ein Verschulden des Mannes plädierte (Aichhorn, EFZ 2022,76)
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