Skip to main content
ScheidungUnterhalt

Der angespannte Arzt

Der Vater, ein libyscher Staatsbürger erwarb in seiner Heimat das Diplom der Humanmedizin und Chirurgie. In Österreich suchte er erstmals 2006 um Nostrifikation seines Medizinstudiums an und betrieb in den Jahren 2009-2011 Nostrifikationsvorbereitungen. 2012 stellte er ein weiteres Nostrifikationsansuchen. Zur Überprüfung seiner fachspezifischen Kenntnisse wurde ihm die Ablegung einer Prüfung bis spätestens 30.04.2014 aufgetragen. Er nahm fünf mögliche Prüfungstermine nicht wahr, obwohl er ausreichend Zeit gehabt hätte sich das für die Nostrifikation notwendige Wissen anzueignen bzw. dieses zu vertiefen. Ohne Nostrifikation ist es ihm nicht erlaubt in Österreich den Beruf des Arztes auszuüben. Als Spitalsarzt könnte der Vater ein Durchschnittsnettoeinkommen von € 2.300,– bis € 2.500,– erzielen. Tatsächlich verrichtete er teilweise Hilfstätigkeiten oder bezog Leistungen des AMS und erzielte ein Einkommen von € 1.000,–.

Ist der Kindesunterhalt nun vom fiktiven Einkommen als Arzt in Höhe von € 2.400,– zu bemessen oder vom tatsächlich erzielten Einkommen?

Nach Ansicht des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien hätte ein pflichtbewusster Familienvater die erforderlichen Bemühungen gesetzt, um eine Nostrifikation zu erreichen und ein höheres Einkommen zu erzielen, um seinen Kindern angemessenen Unterhalt leisten zu können. Er sei daher auf ein fiktives Einkommen als Spitalsarzt von monatlich € 2.400,– anzuspannen.

Das Landesgericht ließ den Rekurs an den Obersten Gerichtshof zu, weil zur Frage, ob einem Unterhaltsschuldner, der ein ausländisches Studium absolviert hat, die schuldhafte Unterlassung einer Nostrifikationsprüfung als unterhaltsrechtliche Obliegenheitsverletzung anzurechnen sei, die eine Anspannung auf ein in dem entsprechenden akademischen Beruf in Österreich erzielbares einkommen zur Folge habe, keine Rechtsprechung bestehe.

Nach Ansicht des OGH, der die Entscheidung des Landesgerichts bestätigte, entspricht es ständiger Rechtsprechung, dass der Unterhaltspflichtige alle Kräfte anzuspannen hat, um seiner Verpflichtung zur angemessenen Unterhaltsleistung nachkommen zu können. Er muss alle Anstrengungen unternehmen, um ein der Sachlage angemessenes Einkommen zu erzielen. Tut er dies nicht, wird er so behandelt, als bezöge er Einkünfte, die er bei zumutbarer Erwerbstätigkeit erzielen könnte. Die Anspannungstheorie greift bei Arbeitsunwilligkeit und, wenn dem Unterhaltspflichtigen ein höheres Einkommen zugemutet werden kann.

Die Anspannung auf tatsächlich nicht erzieltes Einkommen darf nur erfolgen, wenn die zumutbare Erzielung von Einkünften schuldhaft versäumt wird, sodass der angemessene unterhalt des Berechtigten nicht mehr gesichert ist.

Ob die Voraussetzung für die Anspannung gegeben ist, richtet sich jeweils nach den konkreten Umständen des Einzelfalls. Maßstab ist stets das Verhalten eines pflichtgemäßen rechtschaffenen Familienvaters.

Weist ein Unterhaltspflichtiger triftige Gründe für seine verminderte Leistungsfähigkeit nach (z.B. Krankheit, Alter, Haft, Arbeitgeberkündigung), gibt es keine Anspannung auf ein potentielles Einkommen.

Eine Anspannung setzt voraus, dass der Unterhaltspflichtige eine legale Beschäftigung aufnehmen und ausüben kann. Eine Anspannung auf ein Einkommen aus illegaler Beschäftigung (etwa mangels Möglichkeit des Erhalts einer Niederlassung- oder Aufenthaltsbewilligung) kommt nicht in Frage.

(OGH 10 Ob 59/14w-Ef-Z 2915,86; iFamZ 2015,21)